Auch ein Beitrag zum Täuferjubiläum 2025

Blick ins Wasser an einem Seeufer mit einem Steinstrand

„Siehe, hier ist Wasser; was hindert‘s, dass ich mich taufen lasse?“ (Apostelgeschichte 8, 26-40). Diese Geschichte der Reise des äthiopischen Finanzchefs von Äthiopien nach Jerusalem und zurück, las ich am Sonntag, den 20.6.2021, dem Weltflüchtlingstag, in unserem Bibelkurs mit Iranern (Siehe dazu das Manuskript). Unser Leben gleicht einer Reise mit einem Anfang und einem Ende. Die einen von uns haben die Freiheit, auf ihrer Lebensreise Ziele, die sie mal mehr oder weniger gut erreichen, selbst zu wählen. Andere von uns aber sind gezwungenermaßen auf einer Reise.

Es ist eine Flucht in eine Freiheit, die sie erst noch suchen müssen, ob sie ihnen andernorts – z.B. bei uns - gewährt wird. Aber gemeinsam haben wir diese Erzählung gelesen, als wäre sie für uns heute geschrieben, die wir auf der Suche sind nach einem solchen Glauben, mit dem wir – wie der Fremde, der Äthiopier - die Reise unseres Lebens fröhlich fortsetzen können.

An einem konkreten Einzelbeispiel erzählt Lukas in seiner Apostelgeschichte, wie das Evangelium von Jesus Christus Menschen auf ihrer Lebensreise herausfordert, mit ihm einen neuen Weg zu gehen, auf dem sie frei und fröhlich ihre Lebensreise fortsetzen können. Menschen, die einen neuen Weg gehen, so wurden am Anfang die ersten Christen genannt. Neu an diesem „neuen“ Weg war in der Tat, dass der Einzelne mit dem Hören des Evangeliums auch die Freiheit erhält, sein Ja oder sein Nein selbst zu sagen. Nur er alleine kann für sich selbst diese Bitte als Frage aussprechen:  Was hindert‘s, dass ich mich taufen lasse?“. Keine spezielle Volkszugehörigkeit, Kultur, Sprache oder religiöses Weltbild in der Welt ist ein Hindernis oder ein Vorzug, um von ganzem Herzen zu glauben, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Das ist die Antwort des Missionars Philippus: In dir ist kein Hindernis für den Glauben an Jesus. Nur dein Herz muss frei und offen Jesus als den Sohn Gottes bekennen. Allen Menschen auf der Welt steht dieser neue Glaube als Neuanfang des Lebens vorbehaltlos offen. Diese existentielle Erfahrung des Angenommenseins von den Menschen und von Gott, ließ den Äthiopier nun seinen Lebensweg mutig und hoffungsvoll fortsetzen.

Ein warmer Feldweg im Sommer.

Man kann das den urchristlichen Universalismus nennen: Die Unterscheidung zwischen den Kulturen und Völkern wurde aufgehoben durch eine neue Zukunftsvision der einen Menschheit. Kehrt um, denn das Reich Gottes ist nahe gekommen, so begann Jesus seine Predigtreihen in Galiläa. In der ersten Zeit der frühen Gemeinden setzte sich diese Perspektive Jesu auf die Menschen fort. Mit ihrer Predigt von Jesus und die darauf antwortende Bitte des Einzelnen um die Taufe begann ein wahres neues Glaubensexperiment. Der getaufte Äthiopier, der nach der Taufe seine Reise in die ferne Heimat zuversichtlich fortsetzt, ist dafür das klassische Urbild für jeden Bekehrungs- und Konversionsprozess. Die Wahrnehmung kultureller Differenzen in der Welt als Gefahr für die eigene Kultur und Bedrohung für das eigene Selbstverständnis als Volk wurde durch diesen urchristlichen Universalismus überboten. Denn mit dem Erscheinen Christi ist der Menschheit ein grundlegender Neuanfang angeboten, in der keine Form von Rassismus oder Antisemitismus geduldet werden konnte. Aus dieser Sicht des Evangeliums wird auch die Ethik der Bergpredigt Jesu verständlich und möglich: Jesu Radikalisierung des Liebesgebotes in „Liebet eure Feinde“, akzeptiert keine Welt der Ausgrenzung und Diffamierung. Inklusion statt Exklusion wäre heute das moderne Wort dafür.

Lese ich aber im Bibelkurs mit Iranern diese Beispielbekehrung eines Fremden, die Lukas so pointiert darzustellen verstand, dann stellt sich mir die Frage, ob wir heute, angesichts der ganz anders verlaufenden zweitausend Jahre alten Kirchengeschichte Europas, noch so naiv unbefangen diese Konversionsbiografie des Äthiopiers direkt auf uns beziehen können und dürfen. 

Im 4. und 5. Jahrhundert nach Christus wurde aus der verfolgten Kirche zuerst eine staatlich anerkannte und später eine dominierend zwingende Staatskirche, die es nicht mehr wagte, die Christ-Werdung der Bitte des Einzelnen um seine Taufe - also der Freiheit der individuellen Konversionsbiografie - zu überlassen. Mit einer theologischen Begründung der Praxis der Säuglingstaufe, die nun als Sakrament der Kirche gespendet wurde, verlor der Getaufte das Recht, in eigener Verantwortung über seine Christ-Werdung zu entscheiden. Gleichzeitig fand die kirchliche Hierarchie Gefallen an der Übernahme der alten kaiserlichen Machtstrukturen in Rom zur Stärkung ihrer gesellschaftlichen Position als geistliche Heilsanstalt für alle Bürger. Staatsbürger und Christ-Sein wurden vereint.

Das urchristliche Glaubensexperiment, dass die Predigt der Gemeinde auf die darauf antwortende Bitte des Hörers um die Taufe wartet, wurde mit dem europäischen Christentum beendet. Dass der Glaube an Jesus keine Entscheidungsreligion mehr ist, den Weg der Nachfolge Jesu auch wirklich zu gehen, sondern eher einem kulturellen Bildungsprozess gleicht, kennzeichnet die europäische Christenheit in seiner Mehrheit bis heute. Aus der Gemeinde Jesu wurde im Mittelalter das christliche Abendland.

Doch schon in der Hochzeit des Mittelalters, fast fünfhundert Jahre vor der Reformation, inspirierte Laien wie Priester das Lesen und Hören von Textpassagen aus den Evangelien, übersetzt in die Volkssprachen, ihren eigenen Bekehrungsweg zum Heil in Christus zu suchen. 1143 wurde in einem Ketzergericht in Köln eine neue religiöse Gruppe verhört und auf dem Scheiterhaufen verbrannt, die unter Berufung auf das Markuswort: „Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig.“ mit der kirchlichen Säuglingstaufe auch die heilspendende kirchliche Hierarchie verwarf. Sie bekannte vor dem Kirchengericht, sie seien sich - durch ihre eigene Bekehrung zu Jesus - der Sündenvergebung schon sicher. Nur ein urchristlicher Ritus der Taufe, der auf den durch die Predigt von Jesus geweckten Glauben warten kann, entfaltet im Getauften seine den Menschen erneuernde Kraft, so dass er nun wie der Äthiopier seine Straße selbstbewusst ziehen kann. 

Das eigene direkte Lesen der Evangelientexte, ohne den Umweg über die Tradition der europäischen Kirchen- und Dogmengeschichte, entfaltete schon im Mittelalter immer wieder eine revolutionäre, spirituelle Kraft, auf die die Staatskirche mit treuer Unterstützung des Staates mit der kirchlichen Inquisition antwortete. Diese heilige Inquisition war eine der ersten Formen einer durch den Staat autorisierten und politisierten Glaubens- und Gewissensprüfung des Einzelnen, um die Abgefallenen in den Schoß der Kirche zurückzuholen und damit die Einheit des Staates zu sichern. Jede heutige staatliche Überprüfung eines Konversionsprozesses, zu der sich ein demokratisch legitimierter aber säkular verfasster Staat ermächtigt fühlt, sollte sich dieser geschichtlichen Genealogie bewusst werden.

In den Anfängen der Reformationszeit des frühen 16. Jahrhunderts brach im Umkreis der führenden Reformatoren Luther und Zwingli diese Frage nach der im Prozess der Christ-Werdung liegenden Freiheit der eigenen Antwort wieder neu auf. Mit seiner Bitte um die Taufe, die der ehemalige katholische Priester Jörg Blaurock am Abend des 21. Januar 1525 in Zürich im Kreis derer, die eifriger als Zwingli Reformen forderten, begann die Täuferbewegung. Anders als die Konfessionskirchen der Reformationszeit war das Christentum der Täufer durch freiwillige Entscheidungen religionsmündiger Einzelner geprägt, die die christliche Religion in ihre eigenen Hände zu nehmen versuchten. Die Täufer fühlten sich durch das Lesen der Bibel ermächtigt, an den Anfang des Glaubens und des Kirche-Seins die freie Bitte um die Taufe zu setzen. Deswegen wurden sie verfolgt.

Edagar Taufe

 

Haben die Kirchen der EKD 2017 im großen öffentlichen Rahmen ihre „500 Jahre Reformation“ gefeiert, so bereiten die aus der Täuferbewegung entstandenen Freikirchen für 2025, in Erinnerung an diese erste Taufe 1525 in Zürich, ihre Feier „500 Jahre Täuferbewegung“ vor. Ihr Wagnis, im europäischen Abendland mit dem urchristlichen Glaubensexperiment der freien Bitte um die Taufe und der persönlichen Nachfolge Jesu noch einmal neu christliche Kirche zu bauen, war anfangs begleitet von Verfolgung und Vertreibung. Sie waren damit auch Wegbereiter der Glaubensfreiheit und der Menschenrechte. Allerdings fanden bzw. finden nun diese kirchlichen 500 Jahrfeiern in einem veränderten christlichen Abendland statt, das immer säkularer geworden ist und deren Kirchen immer leerer werden. 

Werden Kirche und Theologie im säkularen Europa in der Zukunft noch systemrelevant sein können? „Systemrelevanz“ ist in unseren Krisenzeiten ein neuer Wertmaßstab im gesellschaftlichen Kampf um Anerkennung. Dieser moderne Begriff wird in der derzeitigen Coronakrise so sehr für den unerbittlichen Kampf um staatliche Fördermittel benutzt, dass er für religiös-ethische Werte unbrauchbar ist.

Damit kehren meine Gedanken wieder zurück zu unserem Bibelkurs mit Iranern. Sie haben sich auf ihrem Lebensweg von der islamischen Staatsreligion, in der sie hineingeboren wurden, gelöst, um hier in einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft eines säkularen Staates auch ihren Glaubensweg selbst bestimmen zu können. Und ich frage nicht nur im Kreis unseres Bibelkurses, sondern auch uns alle als Gemeinde, ob dieser Bibeltext der Konversionsbiografie des Äthiopiers heute noch eine unseren Lebensweg prägende Relevanz entfaltet? 

Ich erinnere uns daran, dass auch wir zu den Freikirchen gehören, die es wagten, mit diesem urchristlichen Glaubensexperiment der freien Bitte um die Taufe und der persönlichen Nachfolge Jesu noch einmal neu christliche Kirche zu bauen. Ist dies ein uns fremdgewordenes Ideal früherer Zeiten? Sind wir als Glaubende heute auch so sehr von unserer Individualität und der eigenen spirituellen Souveränität geprägt, dass wir uns nur schwer einfügen können in ein sozial-religiöses Netzwerk, das wir Gemeinde nennen? Nach der langen Unterbrechung durch den Corona-Lockdown müssen wir uns als gottesdienstliche Gemeinde erst einmal wieder neu sammeln. Vielleicht müssen wir noch einmal „mit dem Anfang anfangen“, z.B. mit der Konversionsbiografie des Äthiopiers, damit wir heute wieder gemeinsam und fröhlich unseren Weg fortsetzen können.

Edgar Lüllau 24.6.2021