„Wenn du aber betest,
so geh in dein Kämmerlein
und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater,
der im Verborgenen ist;
und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.“ Matthäus 6,6 

Beten03.2020

Es ist jetzt die Zeit „in das Kämmerlein zu gehen“, so dachte ich am Montag (15.3.2020), als die Bundeskanzlerin verkündete, dass ab sofort Gottesdienste in Kirchen, Moscheen, Synagogen und Räumlichkeiten anderer Glaubensgemeinschaften verboten sind. Noch nie ist in der fast zweitausend Jahre langen christlichen Geschichte Europas ein solch generelles Gottesdienstverbot für alle Menschen ausgesprochen worden. 

Die Macht des Coronavirus hat das geschafft, was keiner Generation vorher jemals zugemutet wurde: Im Augenblick der Gefahr ist es uns verboten, Gott gemeinsam anzurufen. So säkular war das säkulare Europa noch nie. Eigentlich hätte es einen lauten Aufschrei der Kirchen gegen dieses Verbot geben müssen, denn was bleibt uns Menschen anderes übrig, als gemeinsam den Gott aufzusuchen, der uns doch sein Heilsversprechen gegeben hat? Aber alle (oder fast alle) Glaubensgemeinschaften fügen sich der Einsicht in die Vernünftigkeit der guten Gründe, denn die Natur agiert nur nach ihren eigenen Gesetzen. 

Der Kölner Stadtanzeiger brachte am Mittwoch (17.3.2020) als Titelbild einen Blick in die abgesperrten leeren Bänke des Kölner Doms mit der Unterschrift „Der Kölner Dom ist nur noch für Betende geöffnet.“ Das meinte schon Jesus, als er mit dem Prophetenwort „Mein Haus soll ein Haus des Gebetes sein“ alle Verkäufer und Käufer aus dem Tempel trieb. Der Journalismus hat sich in unserer Zeit also doch noch „ein Bewusstsein von dem, was fehlt“ bewahrt. Vielleicht hat dieses Titelbild manchen Leser an den anscheinend unwiederbringlichen Verlust erinnert, den sein Abschied vom Glauben mit sich brachte: Die Praxis, im Augenblick der Gefahr wenn alles, was er bisher tun konnte, sein Leben zu sichern, nicht mehr hilft, einfach die Hände zu falten und zu beten. 

Wir alle sind jetzt auf diese „eiserne Ration des Christen“ angewiesen, die uns Jesus für den Notfall mitgegeben hat: „Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater...“. Jetzt, ohne den gemeinsamen Gottesdienst mit den Schwestern und Brüdern, stellt sich die Frage, ob wir auf unserem Lebensweg diese „eiserne Ration“ noch bei uns haben, oder irgendwann und irgendwie im Laufe unseres Lebens verloren haben. 

Gewiss, dieser kleine Satz Jesu mitten in den Warnungen vor falschem Beten „Wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler ... und nicht plappern wie die Heiden“, kann leicht übersehen werden. Zu dem folgenden Gebet der Gemeinde, das „Vater Unser“, gibt es eine unübersehbare Fülle von hilfreichen Auslegungen. Aber in diesem Vers 6, mit dem der Einzelne, also Du und Ich, angesprochen sind, vermuten die wenigsten eine überlebensnotwendige „eiserne Ration“, die man beim Marsch durchs Leben niemals verlieren darf. 

Das Kämmerlein, in das du zum Beten gehen sollst, war die Vorratskammer, der Nahrungsspeicher für das palästinische Bauernhaus. Ohne einen solchen Speicher konnte niemand die Trockenzeit, in der nichts mehr wuchs, überstehen. Dieser Speicher garantierte das Überleben der ganzen Familie. Abgelegen vom Weg und gut verschlossen war dieser Ort und niemandem anderen zugänglich als nur der Hausgemeinschaft. Nicht in den Versammlungsorten wie Synagoge oder Tempel (oder Kirche), sondern in der Verborgenheit deines persönlichen Gebetes, wenn du die Tür hinter dir schließt, ist Gott, dein Vater, für dich anwesend. Diesen Ort kann dir niemand bestreiten. Dieser Ort steht dir in jeder Gefahr offen. Wie ein Vorratsspeicher ist er ein Ort geistlicher Nahrung und Kraft, Geborgenheit und Hoffnung: „... und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.“ 

In dieser einfachen Aufforderung Jesu „geh in dein Kämmerlein und bete“ und der damit verbundenen großen Verheißung Jesu „dort ist Gott, dein Vater“ läuft alles zusammen, was wir vom Evangelium begreifen müssen. Gott, dein Vater ist dort, wo du im Verborgenen betest, d.h. er ist dort für dich anwesend! Das ist zusammengefasst deine „Eiserne Ration des Christen“. 

Jetzt ist die Zeit gekommen, dass wir von unserer eisernen Ration leben müssen, nicht nur für uns persönlich, sondern für alle Menschen. Denn das Virus, so sagen es uns die Wissenschaftler in ihrer nüchternen, rationalen Sprache, fordert von uns, wenn es nicht auf uns oder andere überspringen soll, unbedingte räumliche Distanz zu anderen Menschen. Wir sollten zu Hause bleiben, nur aus lebenswichtigen Gründen das Haus verlassen. Das Virus, unsere sozialen Kontakte nutzend, entwickelt ein exponentielles (unbegrenztes) Wachstum. Das Gesundheitssystem kommt an die Grenze seiner Kapazität, die Mitarbeiter im medizinischen Dienst an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Die Wirtschaft ist auf Talfahrt. Das öffentliche Leben wird weitgehend lahmgelegt, viele Existenzen stehen auf dem Spiel, und wir wissen zurzeit noch nicht, wie unser Leben weiter gehen kann. 

Deshalb ist jetzt die Zeit gekommen, dass ich zu Hause, um nicht in Depression oder Panik zu verfallen, von meiner eisernen Ration lebe: die Hände falten und beten zu Gott, meinem Vater, der für mich anwesend ist. Ich bete für uns alle, dass der Zusammenhalt der Menschen nicht zerreißt, damit wir uns alle solidarisch zueinander verhalten. Alle politischen, sozialen und religiösen Institutionen unseres Landes müssen in diesem Stresstest zusammenwirken, um das Leben heute und morgen zu retten. Die am Donnerstag (19.3.20) erscheinende Wochenzeitschrift DIE ZEIT tituliert es so: „Die Menschheitsaufgabe“. 

Die Vernunft kann mit ihrem Appell an die Einsicht des Bürgers gute Gründe liefern für die Regeln, die die Freiheit des Einzelnen zum Wohl der Allgemeinheit einschränken. In ihrer Fernsehansprache am Donnerstagabend an die Bürger hat die Bundeskanzlerin dies überzeugend getan: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“ Mehr kann der säkulare Staat nicht tun, es sei denn eine Ausgangssperre anordnen. Aber den persönlichen Entschluss zum solidarischen Handeln im Augenblick der Gefahr muss jeder selbst fassen. 

Worauf ist in diesen unsicheren Zeiten noch Verlass? So sehr es wichtig ist, jetzt auf die zwar fehlbare aber lernfähige Vernunft zu hören, die uns aus ihrer Erkenntnislage sagt, wie wir uns angesichts der Pandemie richtig zu verhalten haben, so sehr verweisen wir auch auf den Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der unsere Herzen und Sinne in Christus Jesu zu bewahren verspricht (Philipper 4,7). 

Dieses Versprechen des Friedens erfährst du jetzt in einsamen Zeiten im Gebet im Kämmerlein, denn dort ist Gott, dein Vater. Hier kannst ihn für unsere Welt bitten, auch der Pandemie Einhalt zu gebieten mit seinem machtvollen Wort „Es ist genug“, wie damals der Pest zur Zeit Davids. Hier kannst du auch Jesus bitten, so wie er damals mit seinem „Schweig und verstumme“ dem Sturm auf dem See Einhalt gebot (Matthäus 8,23-27), auch heute sein die Menschen rettendes und gebietendes Wort zu sprechen. 

Das ist die „eiserne Ration des Glaubens“, die sich heute zu bewähren hat.

Edgar Lüllau, 19.3.2020